Papenburgs Friesenstraße und die Initiative Lebenswerte Städte
Freiheit der Kommunen bei Tempo 30? Ausgebremst vom Bundesverkehrsminister Wissing und einem antiquierten Paragraphen! Warum es gut ist, wenn sich jetzt Kommunen der "Initiative Lebenswerte Städte" anschließen.
Man stelle sich das vor: Eine Stadt oder Gemeinde möchte aus Lärmschutzgründen, zur Unfallprävention, für eine bessere Lebensqualität der Anwohnenden, für menschenfreundlichen Verkehr, oder aus Umweltschutzgründen die Geschwindigkeit auf einzelnen Straßen verringern und darf dies nicht tun. So geschehen im März 2023 in Papenburg an der Ems. Hier forderten die Initiative „Pro Friesenstraße" wegen des hohen Verkehrsaufkommens und dem dazugehörigen Krach eine Verringerung der Geschwindigkeit auf 30 km/h. Nach dem Ergebnis eines hierfür notwendigen Lärmgutachtens konnte die Stadt nicht anders, als dem Wunsch zu widersprechen. In Folge müssen die zahlreichen Anwohner:innen weiter mit dem Krach leben, der nach den Regularien des § 45 StVO noch nicht groß genug war.
Die Sachlage ist bekannt:
Mit vielfältigen Gründen stoßen die Städte und Gemeinden in Deutschland immer wieder an ihre Befugnisse, wenn sie aus guten Gründen die Geschwindigkeit auf bestimmten Straßen, oder im gesamten Ort auf 30 km/h beschränken wollen. Im Regelfall geht dies nicht, ohne eine explizite Begründung anzuführen. In diesem Fall geht es bei den automobil orientierten StVG und StVO um den § 45 der STVO. Das wurmte nicht nur den ADFC, wie auch vielen Umweltverbänden. Ebenfalls regte sich zunehmender Widerstand in den Reihen des Deutschen Städtetages.
Aus der Taufe gehoben: Die Initiative Lebenswerte Städte
Im Juli 2021 wurde die Initiative Lebenswerte Städte gegründet, organisiert von der Agora Verkehrswende mit Beteiligung des Deutschen Städtetages. Aus den anfänglich 7 Gründungsstädten Aachen, Augsburg, Freiburg, Hannover, Leibzig und Ulm ist mittlerweile (Stand 04/2023) ein Bündnis von über 600 Städten und Gemeinden in Deutschland geworden.
Kernthema der Initiative, die sich zur Mobilitätswende bekennt ist die Befähigung der Kommunen, "Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen können, wo sie es für notwendig halten." Dabei bekennen sich die Mitglieder der Initiative
- zur Notwendigkeit der Mobilitäts- und Verkehrswende mit dem Ziel, die Lebensqualität in unseren Städten zu erhöhen,
- sehen Tempo 30 für den Kraftfahrzeugverkehr auch auf Hauptverkehrsstraßen als integrierten Bestandteil eines nachhaltigen gesamtstädtischen Mobilitätskonzepts und einer Strategie zur Aufwertung der öffentlichen Räume
- und fordern den Bund auf, umgehend die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Kommunen im Sinne der Resolution des Deutschen Bundestags vom 17.01.2020 ohne weitere Einschränkungen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts dort anordnen können, wo sie es für notwendig halten.
Der § 45 StVO
Der üppige Text des relevanten Paragraphen regelt in 9 Absätzen verkürzt gesagt,
- (1) die Benutzung, Beschränkung, Verbot und Umleitung bestimmter Straßen durch die Straßenverkehrsbehörden
- (2) die Anordnung von Verkehrsverbote und -beschränkungen zur Durchführung von Straßenbauarbeiten durch Straßenbaubehörden
- (3) das Anbringen von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen durch die Straßenverkehrsbehörden
- (4) die Lenkung und Regelung des Verkehrs durch Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen
- . . .
- (8) selbstredend die Erhöhung von Höchstgeschwindigkeiten inner- und außerhalb geschlossener Ortschaften
- (9) und grenzt gleichzeitig die Möglichkeiten zur Geschwindigkeitsreduktion erheblich ein, indem hierfür hohe Anforderungen gestellt werden. So sind Geschwindigkeitsreduzierungen nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. Insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs dürfen nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.
Der vollständige Text ist in dem nichtamtlichen Verzeichnis des Bundesjustizministeriums zu lesen.
Hintergrund:
Schon lange fordert der ADFC deswegen eine Reform von StVG und StVO. Diese fand auch Gehör bei der Bildung der als Ampel-Koalition bekannten Bundesregierung. Hier wurde eine entsprechende Reform von StVG und StVO im Koalitionsvertrag vereinbart, die den Kommunen Entscheidungsspielräume ermöglichen sollen, mit denen sie vor Ort Maßnahmen zum Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz ergreifen und Belange der nachhaltigen Stadtentwicklung berücksichtigen können.
Seitdem wartet dieses Projekt auf Umsetzung durch das von Volker Wissing geführte Verkehrsministerium. Da das Ministerium bis Anfang 2023 noch nicht mal einen Referentenentwurf auf den Weg brachte, schrieb der ADFC einen OFFENEN BRIEF in Kooperation mit dem Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND), Bundesverband CarSharing (BCS), ChangingCities, Deutscher Naturschutzring (DNR), Deutsche Umwelthilfe (DUH), Fachverband Fußverkehr Deutschland (FUSS e.V.), Verkehrsclub Deutschland (VCD), Verbund Service und Fahrrad (VSF), Bundesverband Zukunft Fahrrad.
Was jetzt sinnvoll ist:
Je mehr Kommunen und Landkreise sich der Initiative anschließen, desto größer wird der Druck auf die Bundesregierung, dafür zu sorgen, den Städten und Gemeinden endlich mehr Freiraum in der Verkehrsplanung und -gestaltung zu geben. Deshalb macht es Sinn, wenn sich jetzt auch die emsländischen Gemeinden und Städte dazu entschließen, der überparteilichen Initiative beizutreten.
Der Beitritt ist einfach und kostenlos. Er erfolgt in der Regel durch formlose Erklärung eines/r politisch Verantwortlichen wie z.B. der oder dem Bürgermeister/in, wie die FAQ der Initiative zeigt.
Osnabrück geht wacker voran.
Mittlerweile haben sich viele Kommunen in Norddeutschland dem Bündnis angeschlossen. So auch Osnabrück: Nachdem die Stadt bereits im Februar der Verkehrsminister Druck machte, trat sie Mitte März ebenfalls der Initiative Lebenswerte Städte bei.
Parteiübergreifend unterschrieben mit Stand Ostern 2023 nicht weniger als 171 Bürgermeister:innen der CDU, 146 der SPD, 137 parteilose Bürgermeister:innen, 25 der Freien Wähler, 23 der Grünen, 6 der FDP, 2 der Partei Die Linke und 50 Bürgermeister:innen sonstiger Parteien die Zugehörigkeit zur Initiative.
Bei uns im Nordwesten sind unter anderem ebenfalls dabei das Artland, Bremen, Cloppenburg, Damme, Emden, Georgsmarienhütte, Hude, Jever, Oldenburg, Osnabrück, Osterholz, Ritterhude.
Die vollständige und aktuelle Liste ist hier zu finden.
Alle relevanten Links sind wie immer in unserer blauen Infobox zu finden.